Registriert: 06.09.2020, 01:43 Beiträge: 620 Wohnort: NÖ/Wien
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Ich finde das auch eher merkwürdig. Entsprechend dem Sinnbild: Man fährt mit dem Auto und will verhindern, links in den Baum zu fahren und reißt das Steuer so stark herum, dass man rechts den Abhang runterfällt. Übersteuert. Ich hab mir in den letzten Jahren öfter Gedanken zu dieser Frage mit kultureller Aneignung gemacht, hier ist also ziemlich ausführlich und zT auch philosophisch. Und wird potentiell Leuten gegen den Strich gehen. Bitte seid trotzdem lieb zu mir. Da vermutlich nicht jeder möchte, dass der Thread durch so einen langen Text zugespamt wird schmeiß ich das in einen Spoiler. - Versteckt:Spoiler anzeigen
- Ich sehe in dem Thema mit dem Kampf gegen kultureller Aneigung auch einen Ausdruck eines amerikanischen Problems: Einen starken, gesellschaftlich tief verwurzelten systematischen Rassismus, der in Europa nicht in der GLEICHEN Form vorkommt.
(Ich will absolut NICHT sagen, dass wir keinen Rassismus hätten, nur eine etwas andere Ausprägung. Als Beispiele: Bei uns gab es historisch nie einen großen farbigen Anteil der Bevölkerung, bei uns empfand man sie eher als einzelne Exoten. In den USA muss sich vermutlich keine farbige Person damit herumschlagen, wie ein Zootier behandelt zu werden. In den USA gab es eher nicht vor ca 30 Jahren noch die Idee, im Urlaub auf Safari nach Afrika zu fahren, um "N*ger in freier Wildbahn" zu sehen - die Formulierung ist bewusst so, um eine Betrachtungsweise zu veranschaulichen, die noch nicht lange her ist. Deshalb gab es bei uns aber auch keine Apartheid und "schwarze Ghettos" und keine Parallelkultur eines großen Anteils der Bevölkerung. In den USA gab es Sklaverei im großen Stil, die es gesellschaftlich in Europa schon jahrhundertelang, eher über ein Jahrtausend, de facto nicht mehr gab. Dafür gab es hier den Holocaust als Folge von Rassenlehre - das gab es in den USA nicht - und auch nicht die darauf folgende Entnazifizierung moralische Beklemmung bei Rassismusthemen aller Art. Bei uns gibt es starke Beschränkungen bei Waffen - das führt dazu, dass Rassismus bei uns zu wesentlich weniger Toten führt als in den USA, also weniger lebensgefährlich für die Betroffenen ist. Ich weiß aber nicht, wie viele konservative muslimische Familien es in den USA gibt, wo soziale Abriegelung und Ehrenmord an Frauen ein echtes Problem ist, so wie es bei uns in den letzten Jahrzehnten aufgetaucht ist - und zwar als Folge davon, dass man zu sehr die andere Kultur undifferenziert als unantastbar betrachtet hat. In den USA spricht der Großteil der farbigen Bevölkerung seit Generationen Englisch als Muttersprache und lebt auch schon so lange im Rahmen der amerikanischen Kultur, bei uns spricht ein großer Teil der Farbigen Deutsch als Zweitsprache und auch häufig schlechter, weil die Zuwanderung erst vor kurzem passierte, ergo gibt es noch mehr andere kulturelle Prägung. Zwischen "die verschüttete Kultur und Wurzeln meiner Vorfahren wieder ausgraben und integrieren" und "überhaupt erstmal die westliche Kultur als Ergänzung zur ursprünglichen kennenzulernen, während man an seiner Ursprungskultur festhält" gibt es schon einen deutlichen Unterschied. Da gibt es unterm Strich einfach viele Unterschiede in der alltäglichen Lebensrealität. Und ich sehe es als problematisch, wenn die amerikanischen Narrative da herüberschwappen und 1:1 bei uns übergestülpt werden.)
Und in den USA gibt es scheinbar einen generellen starken Trend dazu, seine Identität durch Abstammung o.Ä. irgendwie bestimmen zu wollen. Gibt ja auch viele "Weiße", die darauf pochen, dass sie vor 6 Generationen aus Irland kamen o.Ä. Wenn man irgendeinen amerikanischen Künstler hat dann liest man schnell mal, von welchen "Rassen" und Nationalitäten der abstammt. Das ist in Europa kaum vorstellbar, AUSSER es gibt eine sehr spezielle Abstammung. Fun Fact: "Weiße, westliche Menschen aus USA/Europa" werden scheinbar von PoC häufig als "kaukasisch" bezeichnet. Für uns hier ist der Kaukasus aber relativ weit weg, definitiv eine andere Kultur und auch tendenziell andere optische Merkmale bei den Menschen. Wenn man mal einem Schweden oder einem Bauern aus einem Tiroler Bergdorf erklärt, er sei Kaukasier, denn wird das irgendwie merkwürdig.
Daraus folgt dann auch dieses starke Anbinden an Herkunft, und "Rasse" in den USA. Ich meine, hart gesagt sind Farbige die sich selbst als "schwarze Rasse" definieren oder von der "weißen Rasse" sprechen oder sagen, dass sie wegen ihrer Rasse diskriminiert werden (im Gegensatz dazu, wegen ihrem Aussehen diskriminiert zu werden) auch Rassisten - die Idee von Rassen überhaupt ist Rassismus. Nicht nur die Abwertung einer "schwächeren" Rasse. Und daraus, dass man einen großen Teil der Identität über seine Kultur und Abstammung definiert entsteht dann auch der Kampf, um das Recht auf Leid dass Vorfahren angetan wurde und um das Recht auf diverse Formulierungen, Aussehen usw. Man könnte sich ja auch über ganz andere Dinge identifizieren, von Job über Fitness, Gesundheit, Intelligenz, künstlerisches Talent, Empathie, soziale Fähigkeiten, Schlagfertigkeit, Hobbys, Interessen, Erfahrungen uswusf. - anstatt über seine ethnischen Vorfahren.
Ich persönlich denke zB dass Dreadlocs historisch überall vorkommen, genauso wie Flechtzöpfe oder eine Art von Cornrows. Und ich finde, dass es heute eher um kulturelle Wertschätzung geht wenn man das auch macht. Gerade in einer international offenen und verknüpften Welt passiert ein ständiger kultureller Austausch und Verschmelzung, das war immer schon so wenn Kulturen miteinander in Kontakt stehen. Wenn wir Porzellan verwenden, das ist chinesisches Kulturgut, genau wie Seide. Pizza ist aus einer anderen Kultur oder Kebab. Was ist mit Leuten die nicht bayrisch oder österreichisch sind aber Dirndl und Lederhosen tragen (oder eine veränderte Form davon)? Oder wenn man südlich der Donau oder in weiter entfernteren Gebieten nordische Göttersymbole (Thorhammer, keltische Knoten usw) als Schmuck trägt? Wichtig finde ich nur, dass man nicht die kulturellen Aspekte übernimmt, aber die Menschen von denen sie kommen ausgebeutet auf der Strecke lässt. Aber eine Art kulturelle "Abriegelung" führt doch auch nicht dazu, dass diese Menschen weniger rassistisch behandelt und weniger als "die Anderen" gesehen werden. Ich denke, vereinfacht gesagt, je mehr Weiße Dreadlocks oder Cornrows tragen, um so "normaler" wird diese Frisur - um so leichter wird es auch für PoC, die aufgrund ihrer Haarstruktur auf solche Frisuren angewiesen sind, mit solchen Frisuren als normal angesehen zu werden und zB keine Nachteile bei Bewerbungsgesprächen zu haben. Gerade weil sich die Frisuren von der Assoziation eines ethischen Merkmals (Kennzeichen einer Gruppe die man u.U. auch abwerten kann) zu der Assoziation einer Mode, einer Ästhetik, eines Stils der einem gefällt, eben einer "normalen" Frisur verändern. Und ist es nicht das, was PoC wollen? Nicht als "andere ethnische Gruppe" besondere Rechte zu bekommen, sondern einfach als normale Menschen gesehen werden, genauso normal wie die beliebige Person neben ihnen? Mit höchstens einem kleinem optischen Unterschied, aber die zwei "weißen" Personen neben ihr unterscheiden sich ja auch voneinander, denn die eine ist mollig, hat Sommersprossen und kurze blonde Locken und die andere hat eine androgyne Figur, ist durchtrainiert und hat lange dunkelbraune glatte Haare - und einen unterschiedlichen Teint haben sie auch. Und ob die Person auf der anderen Seite Latina ist oder weiß der schwarz erkennt man vllt auch erst, wenn man sich ihren Stammbaum ansieht... Jeder hat halt kleine optische Unterschiede, nicht mehr und nicht weniger. Da will man doch hin?
Was ich persönlich als kulturelle Aneignung nicht okay finde sind solche Sachen, wie wenn man traditionelle Stammesfrisuren (noch existierender Stämme), die für die Stämme vielleicht auch noch heilige Bedeutung haben oder identitätsstiftend sind ungefragt nachmacht. Also zB ganz bestimmte kunstvolle Cornrowmuster könnten das sein, die regional eine Art Visitenkarte sind. Oder auch Kleidung mit bestimmten speziellen Symbolen, die eigentlich heilige Symbole sind die nur zur Segnung, für Rituale und von Priestern benutzt werden. Wenn so etwas ohne Zustimmung der Kultur, wo sie herkommen verwendet wird. Aber das müssen dann auch spezielle Symbole sein, ein Kreis mit einem Punkt in der Mitte oder eine Spirale sind allgemeine Symbole aus vielen Kulturen.
Zur kulturellen Aneigung gehört für mich auch noch folgendes Thema: Schwierig finde ich es, wenn weiße Künstler sich als Farbige ausgeben. Also zB als Schauspieler solche Rollen spielen oder wenn Stars sich immer so schminken und stylen, dass ihr Hautton, Gesichtszüge o.Ä. so wirken. Ich verstehe, dass es genug farbige Künstler gibt, die eh größere Schwierigkeiten haben diesen Markt zu erreichen, dann muss man nicht einen Teil ihrer Erkennungsmerkmale klauen. Weiße Künstler haben genug eigene Qualitäten. Ich verstehe es auch, dass das traditionelle comichafte Backfacing entwürdigend ist/war und Vorurteile fördert und deshalb geächtet gehört. Andererseits finde ich aber auch, dass es übertrieben ist Blacfacing zu schreien, wenn eine MakeUp Artistin ein Schminktutorial veröffentlicht, wo man sich als Privatperson ähnlich wie Beyonce schminken kann. Bei vielen der "schwarzen" KünstlerInnen wäre ich nie auf die Idee gekommen, dass die "schwarz" sind, wenn ich es nicht irgendwann gelesen hätte (zB Beyonce - oder Meghan Markle. Ich hielt das zuerst für einen Witz). Für mich sehen die halt ein bisschen "italienisch" oder "spanisch" oder "türkisch" aus. Wer würde bei uns von kultureller Aneigung und Diskriminierung sprechen weil man mit Schminke ein bisschen spanisch oder italienisch aussehen möchte? Ist es Blackfacing, wenn man sich im Sommer gezielt bräunen lässt oder das ganze Jahr über mit starker Solariumbräune rumläuft? Ist es Blackfacing, wenn man sich die Lippen aufspritzt oder voll schminkt? Ist es Blackfacing/kulturelle Aneigung wenn man sich die Haare kreppt und aufbauscht wie in den 90ern? Wo ist die Grenze?
Deshalb denke ich, alles was "Basic-Techniken" sind, darauf kann keiner einen Anspruch erheben, das ist Allgemeingut. Auf solche Ideen sind die Menschen an vielen Orten der Welt gekommen. Dreads oder Cornrows oder Box Braids (nennt man die vielen kleinen Zöpfchen so?) gehören niemandem, genauso wie eine Zopfkrone, Milchmädchenzöpfe, ein französischer/holländischer Zopf oder ein Dutt niemand gehört.
Und bei den Sachen, die keine Basics mehr sind sondern schon spezialisierter, da würde ich lieber die Frage stellen, ob man damit wirklich den urspünglichen Vertretern etwas wegnimmt, oder ob man ihre Kultur unterstützt und weiterträgt und Werbung für diesen Stil macht.
Disclaimer: Aber das sind natürlich nur (zT philosophische) Überlegungen von mir, das hat keinen Anspruch auf die Wahrheit und ich fordere auch sicher nicht von PoC oder wer sonst noch betroffen ist, so darüber zu denken wie ich es tue. Ich PERSÖNLICH als Privatperson aus meiner Position heraus fände diesen Blickwinkel halt sinnvoller für das größere Thema. Die eine Wahrheit oder Lösung für alle gibt es sowieso nicht. Ich bin eine weiße, europäische CIS-Frau, hab mich in der Gesellschaft nie angenommen gefühlt und hab deshalb einige Jahr in einer Bewegung verbracht, wo man versucht hat mit einer Mischung aus Feminismus und Anknüpfung an vorchristliche Kulturen eine eigene "echte" Identität zu finden. Das Ergebnis war dann, was wir uns auch als unterdrückte indigene europäische Kultur sahen, die versucht sich selbst in ihre wurzeln zu finden und für Anerkennung dieser Kultur kämpft - denn irgendwann wurden unsere Vorfahren mal von den patriarchalen Römern und den Christen ziemlich brutal unterworfen und ihrer Kultur beraubt. Wenn man das philosophische Gedankenspiel weiterführt kann jeder Mensch der Welt das irgendwie für sich beanspruchen. Im Endeffekt hat das aber vor allem dazu geführt, ständig kämpfen zu müssen und mich ständig als "moralisch überlegenes Opfer" zu fühlen, ohne je etwas zu erreichen. Irgendwann bin ich da wieder weg und versuche jetzt eher, ein gutes Leben zu führen, für das ich gar keine größere Identität brauche, anstatt einen Kulturkampf zu führen. Und das ist der Hintergrund meiner philosophischen und gesellschaftlichen Überlegungen.
Und im historischen Kontext sehe ich auch, dass viele Bewegungen erst mal übers Ziel hinausschießen mussten, um ernst genommen und später in vernünftigerem Maße integriert und Teile des normalen Diskurs zu werden. Französische Revolution ist da genauso ein Beispiel wie Feminismus. Also ist es auch nicht so schlimm, dass jetzt manche Dinge übertrieben und Symbolkämpfe ausgetragen werden. Es ist einfach der Kampf darum, dass das Thema einen vernünftigen Platz im gesellschaftlichen Bewusstsein findet und respektiert wird. Und noch weiß halt keiner so genau, wie und wo dieser Platz und das Maß ist. Also wird der Kampf erstmal noch "unvernünftig" geführt. Metaphorisch gesagt, erstmal schreit man und schlägt um sich und erkämpft mit kratzen, beißen und spucken einen Sitzplatz. Und wenn man dann einen festen Sitz im gesellschaftlichen Diskurs errungen hat, dann kann man gemäßigtere, diplomatischere und "vernünftigere" Wege gehen. Das gilt nicht nur für die Bewegung die Respekt für andere Ethnien und optische biologische Merkmale haben wollen.
Heute schmeißen sich in unseren Breiten auch keine Feministinnen mehr Schaufenster ein, werfen sich selbstmörderisch auf Pferderennbahnen und verbrennen BHs vorm Parlament. Es sind nicht alle Probleme gelöst, aber es wird anders diskutiert, weil das Thema Frauenrechte einfach klar ein Teil der gesellschaftlichen Fragen ist. In ein paar Jahrzehnten werden Fragen von Ethnie und Rassismus genauso wie von Genderidentität vermutlich auch noch mal gelassener und pragmatischer diskutiert als jetzt. Und man wird sich auf klarere Grenzen und Regeln geeinigt haben, was gesellschaftlich okay ist und was nicht.
Zum Abschluss nochmal: Bitte lieb sein! Ich weiß, das ist ein emotional geladenes Thema. Aber ich will gegen niemanden Krieg führen.
_________________ Hüftlänge*~ Ich lerne meine Haare kennen - auf gute Zusammenarbeit (>>TB) ~*
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