Matze, Deine Umfrage ist wertlos, weil Du eine einzige Antwort (die tolerante) in drei verschiedene Abstimm-Möglichkeiten verwandelt hast.
Ich halte Deine Ausführungen über Nazis etc auch für ein bißchen weit hergeholt, obwohl wir natürlich nicht vergessen dürfen, daß Gruppen wie die Swinger, die sich amerikanisch angezogen haben, Jazz gehört haben und längere Haare hatten, tatsächlich ins KZ gewandert sind. Weil das als subversiv galt und die Nazis extrem anti-amerikanisch waren.
Aber das ist ein Extremfall, und ich glaube, man kommt im Nachdenken über Stereotypen und Rollen auch ohne die Nazis aus. Die haben so eine lähmende Wirkung auf jede Diskussion, weil es praktisch der GAU ist. Darum denke ich lieber ohne diese Extremsituation einer menschenfeindlichen Diktatur, die ihre Bewohner in ein Schema preßt.
Ich gucke lieber ein bißchen länger zurück. Ideale von Männlichkeit und Gepflegtheit ändern sich. Bei den Römern waren die Männer kurz geschoren, im Mittelalter waren mal Topfschnitte modern, im 17. und 18. Jahrhundert waren lange Haare ein Zeichen für aristokratischen Müßiggang, im 19. waren Schillers lange Locken Symbol für Freiheitsliebe, in den 1960ern waren "Pilzköpfe" Rebellen gegen bürgerliches Kurzhaar... jedesmal hat langes bzw kurzes Haar eine andere Konnotation. Man kann Non-Konformität auf viele verschiedene Arten ausleben. Ich weiß nicht, ob jemand mit Glatze und tätowierten Armen eher einen Job in der Bankbranche findet als einer mit längeren Haaren.
Manche leben auch in einer Illusion der Non-Konformität, also einer Subkultur, die sich insgesamt als nonkonform sieht, aber innerhalb dieser Subkultur herrscht ebenso Gruppenzwang wie in der konservativsten Sparkasse.
Ich glaube, mit zunehmendem Alter gibt sich die Überbewertung der Non-Konformität, und man arrangiert sich leichter in der eigenen Komfortzone und akzeptiert auch die Komfortzonen anderer. In meinem Milieu sind lange Haare bei Männern kein Problem. Ich arbeite an einer Kunsthochschule, alle meine männlichen Kollegen sind entweder Künstler oder Intellektuelle oder Studenten, und sie laufen, genau wie wir Frauen, individuell rum und keiner findet was dabei. Glatze, Halbglatze, Rauschebart, Tücher um den Kopf gewickelt, lange Locken, Pferdeschwanz, wir haben wirklich alles dabei. Keiner denkt auch nur darüber nach.
Mein Mann dagegen ist Ingenieur und arbeitet in der Pharma-Industrie. Allein schon wegen der Vorschriften (Kittel, Plastikhauben, Überzug über die Schuhe) tragen alle Männer und die meisten Frauen dort die Haare kurz. Ein langhaariger Mann würde dort einen "Problemfall" darstellen und vielleicht hätte er Probleme mit der Hygienetante, die dauernd rumläuft und guckt, daß alle ihre Haare gut verpackt haben. Obwohl er die natürlich genauso "unter die Haube" packen würde wie alle anderen. Vermutlich würde er sich die Haare nach einer Weile vor Juckreiz kurz schneiden... Aber normalerweise hat mein Mann an allen Arbeitsplätzen auch mit langhaarigen Männern zusammengearbeitet.
In Banken, in konservativen Branchen, gibt es wesentlich größere Widerstände gegen Abweichungen vom konventionellen Ideal. Das ändert sich dort einfach langsamer, so wie es sich in kleinen Städten langsamer ändert als in großen. Wem das nicht gefällt, der sollte vermutlich nicht in diese Branchen einsteigen - allein schon an Jura- und BWL-Studenten kann man einen konservativeren Stil beobachten (Ausnahmen bestätigen die Regel) als bei Pädagogik- oder Kunststudenten. Und das ist okay so. ich will nichts aufgezwungen kriegen und will niemandem was aufzwingen. Wer sich wohlfühlt in konservativen Modellen, dem sei das unbenommen.
Ich glaube auch nicht, daß es nötig ist, menschen als "lachender Dritter" gegeneinander aufzuhetzen. Wenn Du Kinder hast, kannst Du schon ganz früh sehen, daß das Konzept der Toleranz sich spät entwickelt, und daß Kinder sehr konformistisch sind. Wer anders ist, wird ausgegrenzt. Im Laufe unseres Lebens lernen wir, daß wir Andersartige akzeptieren müssen, aber das ist ein neues Konzept. viele traditionelle Gesellschaften bauen darauf auf, daß Menschen sich in Gruppen voneinander abgrenzen, und diese Gruppen einander eben nicht als gleichwertig anerkennen, so wie wir das praktizieren (oder zumindest behaupten).
Und kratz mal ein bißchen an der toleranten Fassade. Heimlich hält jeder die Gruppe, der er angehört, für überlegen. Ob es die Evangelen gegen die Katholen sind, die Norddeutschen gegen die Süddeutschen, die Bayernfans gegen die HSV-Fans - so sehr man seine eigene Gruppe kritisiert, so heimlich ist man doch überzeugt, daß es eigentlich, eigentlich, eigentlich... die beste ist. Auf Reisen kann man das nett beobachten. zuerst findet man die Spanier oder Italiener sooo toll... bis man nach einer Weile merkt, daß es einem doch zuhause bequemer ist.
Das nenne ich die die eigene Komfortzone. Wenn man Glück hat, ist die eigene Komfortzone flexibel und durchlässig, und man kann im Ausland leben, ohne dauernd zu sagen "aber bei uns...", oder einen Menschen aus einer anderen Gruppe heiraten, ohne dauernd zu denken "aber eigentlich...", und man kann mit Menschen aus verschiedenen Gruppen umgehen, ohne sich dabei unwohl zu fühlen. Aber viele Menschen können das nicht oder sehen es nicht als wichtig an.
Meine Oma zB, eine ansonsten herzensgute Frau, wurde nie dazu erzogen, andere Werte als ihre eigenen anzuerkennen. Für sie war selbstverständlich, daß Katholiken Heuchler sind, Ausländer gefährlich, andere Sprachen komisch, langhaarige Männer faul und subversiv, Menschen aus anderen Milieus entweder asozial oder arrogant.... das waren für sie evidente Wahrheiten. Wenn sie Individuen aus besagten "anderen Welten" kennenlernte, war sie oft überrascht, daß ihre Vorurteile gar nicht stimmten, aber sie erklärte das immer damit, daß das eben Menschen waren, die viel besser waren als ihre Gruppen. Also wenn sie einen netten Katholiken kennenerlente, sagte sie nicht etwa "oh, vielleicht irre ich mich ja in Bezug auf Katholiken!", sondern, "für einen Katholiken ist der ja wirklich sehr nett, schade, daß sie nicht alle so sind!".
Ich kann meine Oma nicht mal dafür verurteilen, denn sie wurde einfach so erzogen. Für sie waren IHRE Regeln und Werte absolute Werte.
Es ist ein Privileg, wenn wir so erzogen worden sind, daß wir anderleuts Regeln und Werte als gleichwertig anerkennen können. Wir können reisen, Bücher lesen oder Filme sehen, die uns eine andere Perspektive ermöglichen, wir ziehen um, wir lernen Leute kennen, die aus anderen Welten kommen. Das erweitert unseren Horizont. Die Erziehung ist heutzutage bei uns nicht mehr daraus auf, aus Kindern "Stempel" der Eltern zu machen, die ungefragt hinnehmen, was die Eltern ihnen vorleben. Sondern Kindern zu ermöglichen, eines Tages ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.
Meine Oma war der Überzeugung, daß Gehorsam das höchste Ziel der Erziehung ist. In der westlichen Welt erziehen heute viele ihre Kinder mit anderen Zielen - Unabhängigkeit und innere Freiheit zB. In anderen Gesellschaften ist das noch immer anders.
Wir haben also Glück, hier und heute leben zu dürfen, unsere persönliche Komfortzone erweitern zu dürfen. Im Laufe des Lebens erweitert sie sich sowieso meist. Es ist durchaus möglich, daß ein Mensch die verschiedenen Werte und Optionen prüft und zu dem Ergebnis kommt, daß er sich in den "angestammten" Rollen wohlfühlt. So habe ich persönlich die Überzeugung, daß Frauen alles können, was sie wollen, und würde nie zu einer Studentin eines technischen Fachs sagen "wie unweiblich!" Ich würde auch meine töchter nie davon abhalten, aus der "weiblichen Rolle", die ja ohnehin aufweicht, auszubrechen.
Aber ich persönlich habe einen "typisch weiblichen" Beruf, erfülle in meiner Ehe die weibliche Rolle (Haus, Kinder, soziale Beziehungen sind mein Metier, Auto, Garten und Reparaturen die meines Mannes - der übrigens viel flexibler ist als ich, nähen, häkeln, Wäsche machen kann, während ich seine Arbeiten nicht übernehmen könnte!) und kleide mich eher konservativ. Ja, selbst meine Oma könnte nichts daran aussetzen, wie ich lebe
Aber das ist meine freie Wahl.
Es kann durchaus sein, um meinen Bogen wieder zu Matze zurück zu schlagen, daß die verachteten Schlipsträger mit ihren schicken Kurzhaarfrisuren sich so sauwohl fühlen. Daß sie mal lange Haare hatten oder eine Glatze mit einrasierten Mustern oder einen Iro oder einen Undercut oder himmelblaue Strähnchen oder Dreads. Und daß sie irgendwann gemeint haben, jetzt lassen sie sich die Haare schneiden und fertig. Weil es nicht mehr zu ihnen paßt, weil es zu viel Aufwand ist, oder weil sie so alt geworden sind, daß sie nicht mehr über ihr Aussehen Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollten.
Es ist absolut okay in meinen Augen, konventionell und konservativ zu sein, solange es nicht dazu führt, daß man andere verachtet oder alle Welt zu seinen Klonen machen will.
Es ist auch möglich, daß jemand nach außen hin 08-15 aussieht, super angepaßt, und innerlich ein Rebell ist - genauso wie es möglich ist, nach außen hin rebellisch zu wirken und doch ein oberflächlicher tropf zu sein.
Ich warne auch vor einer Idealisierung der 60er Jahre, obwohl natürlich der Generationenriß zwischen meiner oben beschriebenen Oma und ihren Söhnen und Töchtern genau damals stattgefunden hat. Die Alltagskultur hat sich damals gewandelt, die Normen sind viel flexibler geworden. Und das ist gut so.
Aber soziale Solidarität gab es damals ebensowenig wie vorher und nachher. Die Studentenrebellion kam auch nur einer bestimmten Gruppe zugute. Soziale Solidarität war möglich, weil Geld genug da war, Wirtschaftswachstum machte vieles möglich, was heute nicht mehr geht. Aber damals genau wie heute und vor Tausenden von Jahren - der Mensch ist in erster Linie am eigenen Wohlergehen interessiert. In menschlichen Beziehungen sind wir im besten Falle altruistisch, aber Politik ist mit Altruismus nicht zu machen.
Ich bin zu dem Schluß gekommen, daß ehrlicher Pragmatismus und die Anerkennung des Pragmatismus der Anderen die beste Methode sind. Wer lauthals von Idealen spricht, der praktiziert zu oft das Gegenteil. Wer dagegen ehrlich über sein Eigeninteresse nachdenkt und sich dazu bekennt, der kann auch anderen entgegenkommen, denn das dient oft seinem Eigeninteresse.
Im Privatleben können wir altruistisch sein - als Staat, als Gesellschaft, müssen wir unsere eigenen Interessen wahren. Nicht auf Kosten anderer, aber ehrlich und fair. Ich erwarte nicht, daß sich andere für uns opfern, und ich möchte uns nicht geopfert sehen.
Entschuldige, wenn das lang wurde, aber ich habe in Deinem ersten Beitrag so viele Vorurteile und kurzsichtige historische Betrachtungen gefunden, daß ich nicht still sein konnte. Ich sehe nicht, daß ein neuer Konservativismus herangerollt kommt. Im Gegenteil, ich sehe, daß heutzutage die Medien selbstverständlich links sind, daß Konservative heutzutage Standpunkte vertreten, die früher als links galten, daß auch der letzte Konservative seine Töchter selbstverständlich nicht als "Nur-Hausfrauen" sehen möchte, und daß Geschiedene, Homosexuelle, Angehörige von Minderheiten, "Mischlinge" und sonstige früher Verpönte Karriere machen und akzeptiert werden. Natürlich ist überall auch Heuchelei zu finden. Aber insgesamt ist die deutsche Gesellschaft sehr weit gekommen.
Früher waren Witzchen über "Frau am Steuer" und Belästigung von Frauen so normal, daß sie nicht mal wahrgenommen wurden. Wer ein "uneheliches Kind" hatte oder "ledige Mutter" (nicht mal die Begriffe werden noch benutzt!), der war einfach 2. Klasse. Ehen über soziale, konfessionelle oder nationale Schranken hinweg waren ungern gesehen. Das habe ich alles noch miterlebt, Matze. Und das sind heutzutage Standpunkte, die keiner mehr vertreten darf, ohne sich unmöglich zu machen. Selbst wenn manche noch so denken, "ja, der ist ja nur Türke" oder "iih, ein Schwuler" oder "ne Frau als Chefin, pfui Teufel" oder "trau keinem Juden" ... aber in den 60er, 70er Jahren konnte man das noch offen aussprechen. Jetzt nicht. Die Normen haben sich verändert.
Daß Frauen als Regierungschefinnen oftmals konservativ sind, hat ganz andere Gründe als die von Dir vermuteten (Verschwörungstheorie). 1. wird eine konservative Frau sowohl von konservativen als auch von nicht-konservativen Männern akzeptiert, eine nicht-konservative Frau dagegen nur von nicht-konservativen. 2. neigen erfolgreiche Frauen dazu, Verhaltens- und Denkmustern von erfolgreichen Männern zu übernehmen, 3. gibt es auch nicht-konservative weibliche Führungsfiguren, 4. verbirgt ein konservativer Habitus manchmal nicht-konservative Ideen, 5. braucht ein konservativer Standpunkt nicht a priori negativ zu sein.
Ich nehme an, daß Du negative Erfahrungen mit Deinen langen Haaren hattest, aber das auf die gesamte Gesellschaft zu übertragen und einen Trend darin zu sehen, halte ich für eine groteske Übertreibung.